Das Leben unter Sowjetrussen und Polen von März 1945 bis Mai 1946 und die Ausweisung aus Pommern

Im Herbst 1944 machte sich erstmalig das Näherrücken der Front bei uns dadurch bemerkbar, daß die ersten Trecks aus dem äußersten Osten Ostpreußens in unsere Gegend gelangten.

Mit der zweiten Hälfte Januar 1945 setzte aber dann erst der eigentliche Durchzug ein: Ost- und Westpreußen und Pommern aus den Grenzbezirken. Das steigerte sich rasend schnell bis Ende Februar. Dann waren alle Straßen so verstopft, daß erst ein Halt eingeschoben werden mußte. So lagen einige Trecks fast acht Tage bei uns fest, ehe sie weiter konnten. Was in diesen Wochen an Elend an uns vorüber zog, ist unsagbar. Es war ja doch Winter und noch dazu ein strenger! Unzählige Kinder waren erfroren, verhungert, oder verloren gegangen; überhaupt Familien zerrissen und getrennt, dadurch daß die Trecks irgendwo auseinandergerissen waren. Am schlimmsten muß es in Ostpreußen selbst, bei den Übergängen über die Flüsse und über das Haff gewesen sein. Ganze Trecks sind dabei ins Eis eingebrochen und untergegangen. Dazu die ständigen Verluste durch Tiefflieger! Ein namenloses Elend, das über dies wandernde Volk gekommen war und wehe dem, der all diese Not zu verantworten hat. Die letzten Trecks zogen bei uns am 5.3.1945 weiter. Vorher, am 4.3. vormittags, warf zum ersten Mal ein Flieger bei uns Bomben ab, traf aber nur das Freie, bei der Niedermühle, im Park und bei Planheide. Am 6. mußte auch Tychow geräumt werden, wegen drohender Kampfhandlungen im Räume südlich der Schlawe-Stolper Chaussee. Da die Russen aus Südwest und Süd kamen, konnte ein Halten m. E. nur am Wipper-Abschnitt bei Schlawe geschehen und dabei müßte der Russe gut drei Tage aufgehalten werden können. Noch war er nicht heran, sondern das geschah erst am 7. März 1945.

Meine Frau und ich waren uns darin völlig einig, daß wir uns den Trecks keinesfalls anschließen, sondern in Tychow verbleiben würden. Da traf am 5. meine Frau im Dorf Minna Stüwe und es ergab sich, daß sie alleine auf ihrem Hofe (einsam am Wald gelegen) verbleiben würde, alle anderen wollten „in den Busch" nach Planheide ziehen. Minna Stüwe riet uns ab, in unserm Hause zu bleiben, und bot uns ihren Hof als Asyl an. Das nahmen wir dann auch sofort an.

Am 6. zog alles, bis auf einige Männer, die das Vieh zu versorgen hatten, aus Tychow ab; die Bauern hatten das schon in der Nacht zuvor getan. Es half kein Widerreden und Telefonieren - wie viele haben wir dadurch zum letzten Mal gesehen! Sie sind nicht weiter als bis Thyn gekommen und haben unterwegs alles verloren, was sie mithatten und was zum großen Teile alles erhalten geblieben wäre, wenn alle zuhause geblieben wären. Ich bin in Laufe des gleichen Nachmittags noch zweimal zum Stüwehof gefahren und habe Sachen hingeschafft, und abends, bei völliger Dunkelheit fuhren wir dann selber hin, im Landauer und im Jagdwagen: meine Frau, Cousine Alice, Fräulein Klemme und Fräulein Else Maurer, Vetter Kospoth und Herr Pagenstecher.

Lange, Otto Grosch, Borow und der Rieseler Krause hatten uns noch beim Anspannen usw. geholfen. Auf dem Stüwehof fanden wir noch den französischen Gefangenen Marcel und Hertha Runow vor. Ich hatte eigentlich erst am 7. März fahren wollen, weil ich mit dem Eintreffen der Russen nicht vor dem 9. rechnete; aber meine Frau war anderer Ansicht und es war gut so, obgleich wir auf diese Weise nicht alle Eßvoräte mitbekamen, die ich eigentlich mitnehmen wollte. Am 7. vormittags gegen 8 Uhr fuhr ich dann zusammen mit Fräulein Klemme im Jagdwagen nochmals nach Tychow, besonders, um das gestern noch geschlachtete Schwein zu holen. Es hatte leicht geschneit und scharf gefroren. Als wir auf dem Hof ankamen, empfing uns Totenstille, keine Spuren waren zu sehen.

Also waren die Männer nun auch abgerückt, was mir ein Gang durchs Beamtenhaus bestätigte. Ich ging noch einmal durchs leere Herrenhaus und nahm wehmütig-stillen Abschied von den schönen Räumen. Als ich in den Flügel gelangte, kam mir Klemme aufgeregt entgegen, in der Küche seien fremde Männer. Sie entpuppten sich als fünf englische Kriegsgefangene, die von irgendwelchen Trecks bei unseren Franzosen hängen geblieben waren. Sie kamen mir sehr gelegen und mußten mir beim Aufladen des Schweines helfen. Währenddessen schoß es sich mit Geschütz- und Gewehrfeuer immer näher an Tychow heran. Ich schätzte es aber immer noch in Gegend von Rauhen Berg. Schließlich kam es aber doch so in die Nähe, daß ich es vorzog, abzufahren. Schwerbeladen, wie wir waren, ging es im Schritt zum Tore hinaus. Vor dem Hoftor begegneten wir zwei zurückgehenden Infanteristen, die wir fragten, wo den eigentlich der Russe sei? Oh, der sei mit seinen Panzern schon unten im Dorf. Na, das war ja allerhand, trieb uns deswegen aber noch nicht zu größerer Eile an. Als wir aber den Hang am Ziegnitzer Weg erreichten, erschien wirklich ein Panzer an der Hofecke und schon pfiffen uns MG-Kugeln um den Wagen. Jetzt hieß es Galopp! Das besorgten dann auch die Rösser. Der Panzer zunächst hinter uns her, aber wir waren dann glücklich durch eine Wegbiegung aus seiner Schußlinie. Gerade als wir ihn wieder sehen konnten, erblickte er eine parallel mit uns auf der Besower Chaussee fahrende deutsche Militärkolonne, und die war ihm lohnender, so daß er sich auf diese stürzte. Wir blieben aber weiter im Galopp und verloren dabei ca. 200 m vor der Schonung einen Schinken, den liegenzulassen wir aber vorzogen. Als wir den Stüwehof hinauf wollten, begegnete uns eine zurückgehende Volkssturm-Kompanie, die sehr erstaunt war, daß wir hierbleiben wollten. Ihretwegen hatten wir anhalten müssen. Beim Anfahren riß uns ein Streng und so mußten wir den Wagen erst einmal stehen lassen. Ich hatte Sorge, daß diese Kompanie den Russen nach sich ziehen würde, das war aber glücklicherweise nicht der Fall, und, nachdem wir gegessen hatten, konnten wir den Wagen und seine Schätze in Ruhe bergen. Am 8. liefen uns durch Unvorsichtigkeit von Herrn Pagenstecher die Pferde Ulf und Seerose fort, natürlich auf Nimmerwiedersehen. Dann sahen wir vom Hofe her mächtige Rauchwolken sich erheben. Mit dem Glase glaubte ich feststellen zu können, daß es rechts vom Eiskeller brannte, es also das Herrenhaus nicht wäre. So war es dann auch, es brannten aber der alte und der neue Schafstall: dieser mit Schweinen, Schafen und Jungvieh. Auch die Scheunen dazwischen brannten, und das Wohnhaus von Frau Hermann. Alles absichtlich durch ehemalige Kriegsgefangene oder Polen angesteckt. Unsere Hauptsorge war die Beschaffung von Brennmaterial. Das war ja nun bei der Nähe des Waldes nicht schwer. Als Pagenstecher und ich am Freitag, dem 9. dabei waren Holz zu zerkleinern, erschienen zwei Russen auf dem Stüwehof, ein Sergeant und ein Soldat; sie waren auf der Suche nach versprengten Deutschen. Sie fanden bei uns auch zwei, die eben gekommen waren. Der eine konnte sich schnell durchs Fenster retten, der andere wurde gefangen. Sehr wohl fühlten sich die Russen nicht, in unserer männlichen Überzahl, trotzdem nahmen sie uns aber noch schnell die Uhren ab, und auch mein schönes Glas ging dabei mit. Dann mußte ich ihnen Kriemhild und Alf vor den Jagdwagen anspannen. Marcel mußte die Zügel nehmen, der deutsche Gefangene sich neben ihn setzen, die beiden Russen hinten, und ab fuhren sie. Trotz Rufens und Pfeifens schlossen sich beide Hunde, Helle und Bautz, dem Wagen an. Also waren wir einen Wagen, alle vier Pferde, die Hunde und Marcel los. Als erster kam, sehr erleichtert, Marcel wieder; den hatten sie oben an der Schonungsecke absteigen lassen. Als zweiter und letzter erschien in der Nacht Bautz wieder. Den deutschen Gefangenen fanden wir nach einigen Tagen kurz vor dem Ziegnitzer Weg mit Genickschuß. Wir haben ihn dann dicht bei der Schonung begraben. Daß ich die Pferde nicht mehr hatte, darüber war ich späterhin ganz froh, ich hätte sie auf die Dauer nicht ernähren können.

In den nächsten Tagen und Wochen hatten wir andauernd Besuch versprengter deutscher Soldaten, sich versteckt haltender Bauern und Zuzug von Mädchen, die sich vor den Russen bergen wollten. So kamen die Enkelinnen vom Pfarrhofe, Helga und Hannelore Paul, ferner Hanni Schulz und ihre Schwester und Gerda Mienert. Unter den ersten, die sich einfanden, war auch Herr Kreienbrink; er erzählte, daß Giese erschossen sei, und daß man das beinahe bei ihm auch habe machen wollen. Er sei deswegen geflüchtet. Nachdem er bei uns gegessen und sich etwas erholt hatte, zog er weiter nach Suckow, wo unsere Sekretärin, Fräulein Dobrez, eine Bleibe für ihn hatte. Er ist dann später auch verschleppt worden, und wir wissen nicht was aus ihm geworden ist. Wir hörten, daß Jochen v. Bonin verschleppt sei, und daß seine Frau mit den Polen fortgezogen. Um so größer die Freude, als Jochen mit Förster Christel nach einigen Wochen bei uns erschien. Er war bis Hebrondamnitz geschleppt und dann entlassen worden, und war nun in großer Sorge um seine Frau.

Um uns herum schoß es dauernd. Erst erfüllte uns das mit Sorge, dann aber gewöhnten wir uns daran, zumal wir allmählich feststellten, daß die Russen immer schössen, wenn sie sich dem Walde näherten, bzw. in ihm marschieren mußten. Sie hatten im Walde eine heillose Angst. Tag und Nacht dröhnte von drei Chausseen in dieser Zeit das Fahren schwerer Autos und besonders von Panzern herüber; zunächst näher, später auch sich über Stolp verlierendes Geschützfeuer. Bald hier, bald da, rötete sich nachts der Himmel von Bränden. Glücklicherweise hatte es meine Frau bei Herrn Kreienbrink, unserem Beamten, erreicht, daß der vorhandene Spiritus in der Brennerei noch abgeliefert und der Rest ausgelassen wurde, so daß wenigstens durch Spriritus bei uns kein Unheil angerichtet wurde, wie vielfach woanders. Leider war die Zerstörung der Einrichtungen in der Brennerei nicht zu erreichen gewesen. Allmählich kamen immer mehr Nachrichten über das, was sich in Tychow und Umgebung abgespielt hatte zu uns, zumal Frau Perl, Mienerts und die Runows vom Krug machmal des nachts erschienen, um den Töchtern Nahrungsmittel usw. zu bringen. In Schlawe muß es sehr schlimm gewesen sein, zumal der gewissenlose Ortsgruppenleiter Pumplun die HJ zu letztem Widerstand eingesetzt hatte, selbst aber rechtzeitig verschwunden war. In Schlawe, Alt Warschow und anderswo waren viele Menschen durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. Von Ärzten gab es nur noch den alten Vater Röhrich. Über Besitzer der Umgebung war zunächst noch wenig zu erfahren. Bonin wurde bald durch die Russen zur Bewirtschaftung von Besow und Ziegnitz herangezogen, doch sollte das nicht lange dauern. Plötzlich hieß es nämlich, daß russische Kommissare von Ort zu Ort zögen und Teile der Bevölkerung verhafteten. In Tychow wurden viele Frauen und Mädchen und fast alle Männer, darunter auch Pause, der eigentlich über das übliche Alter hinaus war, verhaftet. In Ziegnitz traf es dabei auch Bonin und Förster Christel. Einigen Vorsichtigen gelang es, sich rechtzeitig in die Wälder zu drücken. Nach einigen Tagen konnten sie sich dann ruhig wieder zeigen, denn die am Orte vorhandenen Russen hatten gar kein Interesse am Verhaften der Menschen. Diese wurden in Massen in Stolp und Schlawe in irgendwelche Räume zusammengepfercht, ohne jede Möglichkeit, ihren Bedürfnissen außerhalb dieser Räume genügen zu können. Es müssen da unsagbar grauenvolle Zustände geherrscht haben. Zu Essen gab es außerdem kaum etwas. Die Folge waren Ungeziefer in Mengen und Krankheiten, wie Hunger-, Fleckentyphus u.a. Ein Teil dieser Menschen wurde in der Gegend mit Schienenaufreißen, Fabrikabbau u.a. beschäftigt, die große Menge aber allmählich nach Osten verschleppt. Viele erlagen vorher den Krankheiten; von unseren Nachbarn gehörten zu diesen: Krockow-Peest, Zitzewitz-Zitzewitz und Zitzewitz-Kl. Machmin. Im Stüwehof trafen jetzt alle Augenblicke Verschleppte ein, denen es gelungen war, irgendwo bei der Arbeit zu entwischen, oder aus den Zügen zu springen. Es galt immer, diese Flüchtlinge auf den richtigen Weg zu bringen, was meistens Minna Stüwe oder ich besorgten. Weitere Nachrichten über das Schicksal unserer Nachbarn drangen zu uns: In Wusseken Robert und Georg v. Kleist erschossen, die Frau und Töchter dort unter einem gemeinen Holländer arbeitend. In Bartin Herr Becker verschleppt, Frau und Töchter, sowie die alte Mutter hatten sich auf dem Treck, als die Russen kamen, vergiftet, die drei Söhne waren gefallen. In Franzen Herr Puttkammer kurz verschleppt, aber bald zurückgekommen. In Kulsow Frau v. Boehn erschossen, er für die Russen wirtschaftend. In Dubberzin Boeltzig's bei ihren Leuten wohnend. In Kl. Runow Frau v. Below da, aber schlecht behandelt. In Reddentin die alte Frau v. Below da. In Peest die Gräfin Krockow mit Tochter und Mutter im Fösterhause wohnend und von ihrem dänischen Beamten schlecht behandelt. In Peest B. haben sich Deike's mit drei Enkeln das Leben genommen. In Pennekow taten Schach's dasselbe. In Schlawe, die Ärzte Schmidt und Woedtke, Tierarzt Schwarz, die alten Drafehe's, Fräulein Schmidt und viele viele andere durch Selbstmord geendet, andere von den Russen ermordet. In Wusterwitz Frau v. Wolff und Töchter noch da. Weiter von Süden nichts zu hören. Ein ganz kleiner Treck aus Ostpreußen, geführt von einer Frau Schönwald, Witwe eines Forstmeisters und gelernte Johanniterschwester, der von uns am 6. weitertreckte, war nur bis Planheide gekommen und bei Bauer Last untergezogen. Frau Schönwald wurde von da aus als Krankenpflegerin, ja zum Teil als Ärztin, zum Segen für die ganze Umgebung eingesetzt und wirkte außerdem sehr anregend, wenn sie zu Besuch kam. Nach einiger Zeit kehrten auch die alten Stüwe's wieder heim, sie waren nach Planheide ausgewichen und es fing dort an ungemütlich zu werden. Sehr zustatten kam uns allen, daß am Diebssteig drei deutsche Bagagewagen stehen geblieben waren, die außer Munition und Waffen eine Menge Rasierzeug, Nähzeug, Schreibpapier und Bleistifte, auch etwas Soldatenwäsche, Mäntel und vor allem viele Decken enthielten. Alle diese Sachen kamen uns, außer den Waffen, sehr zu paß. Wir waren beim Aufsuchen dieser Wagen aber noch sehr vorsichtig. Späterhin bargen wir die Wagen in einer Schonung. Allmählich fühlten wir sehr vorsichtig bis Sigurdshof vor, sonst aber hielten wir uns ganz zurück und zeigten uns nirgends. Im Dorfe ging das Gerücht, wir lebten in einem Bunker im Walde. Einen solchen baute ich späterhin, als Lebensmittel-Keller. Die Mädels auf dem Stüwehof hatten einen regelrechten Wachdienst eingerichtet. Jedesmal wenn ein verdächtiger Mensch, auch als schwatzhaft bekannte Deutsche, besonders aber wenn Russen in der Ferne gesichtet wurden, verschwanden alle Mädchen in der angrenzenden Schonung. Zu uns kamen verschiedene Male einzelne Russen; Sie wurden aber von Minna Stüwe, dem Franzosen Marcel und nötigenfalls Vetter Kospoth, der sich als Engländer ausgab, empfangen, bewirtet und beschwatzt, bis sie wieder abzogen, ohne von uns anderen etwas gesehen zu haben. Am 10.4. begingen wir Minna Stüwe's Geburtstag mit Choral und kleiner Ansprache; und am 16.5. feierten wir mit Kaffee und Kuchen und Ansprache den Geburtstag von fünf derzeitigen Bewohnern des Stüwehofes, darunter den 80. von Vater Stüwe. So gingen die Wochen im ziemlichen Frieden dahin, bis wir am 18.5. offiziell entdeckt wurden. Ich war im Walde gewesen und als ich zu Mittag zurückkam, sah ich allerlei Russen auf dem Hofe und in der Scheune, in der wir einige Koffer notdürftig versteckt hatten, andere waren inzwischen im Wald vergraben. Die Russen waren fast alle ehemalige Kriegsgefangene von uns. Sie fragten, warum ich nicht auf dem Gut arbeitete, und wo meine Waffen wären. Ich antwortete, ich arbeite ja hier auf dem Bauernhofe, für das Gut wäre es zu weit, und Waffen hätte ich keine; die wären im Schloß geblieben, ins Stückenmoor geworfen, oder über die Oder geschafft. Nun suchten Sie die Koffer durch und fanden unglücklicherweise eine kleine Schachtel Parabellum-Munition, die sich in der Eile des Packens in einen Koffer verirrt hatte. Nun war der Teufel los, und einer sauste nach Tychow, um den Major zu holen. Der kam auch sogleich im Auto angesaust, und ich mußte ihm alles auseinandersetzen und klarmachen, daß die zur Munition gehörige Pistole mein Sohn mitgenommen habe. Ob er es geglaubt hat, weiß ich nicht, er tat aber so und beschlagnahmte nur alles inzwischen Gefundene, wozu auch leider noch Honig und Zucker gehörten. Dann aßen wir Mittag. Kurz darauf erschien der Major erneut, sehr aufgeregt, und sagte, obwohl er vorher keinen Ton Deutsch gekonnt hatte, auf Deutsch zu Minna Stüwe: „Graf nicht sagen, wo Waffen!" Ich hatte ihm nämlich am Vormittag gesagt, wenn es mir wirklich um Waffen zu tun wäre, brauchte ich ja nur in den Wald zu gehen, der läge ja voll davon; und ich hätte nur meine Not damit, denn deutsche Jungen kämen dauernd und trieben Unfug damit. Der eine Junge von Panzer's hatte sich bereits mit einer Handgranate die Hand verletzt. Kaum war der Major da, kam ein ganzer Schwarm von Offizieren und Kommissaren, ja sogar ein leeres Lastauto bis zur Waldecke. Nun ging das Verhör nach allen Richtungen erneut los, und es schien gut zu sein, daß ich arbeitsmäßig und nicht städtisch gekleidet war, denn der Major sprach sehr erregt auf all' diese Leute, besonders die Kommissare ein, und man hörte, daß er ihnen auseinandersetzte, ich arbeitete, obgleich ich ein Graf wäre, ganz einfach hier als Bauer. Na, das schien dann auch zu wirken, und nach einer Weile zog der ganze Schwärm, nachdem er noch in jede Schublade geschaut hatte, ab. Bei unseren Koffern, blieb als Posten ein russischer Soldat und ein Flintenweib. Der Major hatte uns dazu noch sagen lassen, wir dürften nichts heraus nehmen, morgen würde er alles holen lassen und dann würde er sehen, was er uns zurückgäbe. Das Flintenweib und der Soldat blieben bis 8 Uhr abends, dann kam freudestrahlend einer unserer ehemaligen Gefangenen und holte sie auch ab. Die Koffer ließen wir tatsächlich in deutscher Ehrlichkeit unberührt. Erst viel später, nachdem wir die Russen und ihr System besser kennen gelernt hatten, ist uns klar geworden, daß der Major uns eine Chance hatte geben wollen, uns das Erforderliche selbst aus den Koffern zu nehmen, denn zurückgeben konnte er selbst später nichts mehr. Während man uns am Vormittag durchsuchte, führte man gleichzeitig Vetter Kospoth und den Franzosen Marcel ab. Sie wurden dieses Mal endgültig gezwungen, den Weg in den Westen einzuschlagen, und sind wahrscheinlich in ein Sammellager gekommen. Was dann weiter aus ihnen wurde, konnten wir noch nicht feststellen. Einige Zeit zuvor waren sie schon mal nach Schlawe gebracht worden, nachdem sie vorher vom russischen Major in Tychow sehr gut bewirtet worden waren. In Schlawe waren beide am nächsten Tag einfach umgedreht und auf Umwegen durch den Wald wieder zu uns zum Stüwehof gekommen. Der russische Major in Tychow wurde in der ganzen Gegend bekannt, alle kamen um Hilfe zu ihm. Am Tage nach der Durchsuchung kamen ein Leutnant, der Agronom und mehrere Soldaten und Flintenweiber in einigen Wagen angefahren. Mit ihnen mußte ich in den Wald, um die da herumliegenden Waffen zu zeigen und zu holen. Bei Rückkehr fanden wir andere Russen beim Durchstöbern des Gehöfts und auf der Suche nach vergrabenen Sachen, wodurch dieses Mals weniger wir als Stüwe's getroffen wurden. Von mehreren Sachen in den Koffern erhielten wir sogar einiges zurück, der Rest wurde aufgeladen und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Nun mußten Herr Pagenstecher und ich mit dem Agronom und dem Leutnant nach Tychow fahren. Pagenstecher sollte die landwirtschaftlichen Statistiken bildlich darstellen, was ich sollte, blieb ungewiß. Wir wurden ins Beamtenhaus gebracht, denn dort wohnte der Major mit seinem Stabe, während das Herrenhaus von einem anderen Major mit seinem Stabe belegt war. Das erste Wiedersehen mit dem verwüsteten Hofe!

Natürlich erregten wir bei allen Deutschen großes Aufsehen, doch konnten wir niemand sprechen. Landwirtschaftlicher Beamter in Tychow war jetzt Paul Mayhak, Bürgermeister war Reinhold Unnasch und sein Stellvertreter Walter Panzer. Im Hause sahen wir ein paar Tychower Frauen, die da kochten und Bedienung machten, wie zum Beispiel Lotte König, und im Büro Frau Dux, die früher im Ernährungsamt in Schlawe bei Herrn Strehlow tätig gewesen war. Nachdem wir ein sehr gutes, russisch zubereitetes Mittagessen unter Beisein des alten Statschina -Feldwebel oder Sergeant - eingenommen hatten, wurde Pagenstecher in seine Arbeit eingeweiht. Nach Stunden kam nun auch endlich der Major, und ich ließ ihn fragen, was ich nun eigentlich sollte. Nach einigem Überlegen meinte er, ich solle wieder nach Hause gehen, aber nicht in den Ort, da er für die Soldaten des anderen Majors nicht garantieren könne. Na, ich war nicht traurig und ging schleunigst zum Stüwehof zurück, wo ich erleichtert empfangen wurde. Pagenstecher arbeitete von nun an regelmäßig in Tychow, erst an den Statistiken, dann an ungezählten Bildern von Stalin, und zwischendurch am Porträtieren aller vorhandenen und durchkommenden Russen und ihrer Weiber. Er hatte sich allmählich als „Fünf-Minuten-Zeichner" eine bemerkenswerte Fähigkeit angeeignet; außerdem wurde er so zu einem Bindeglied und Nachrichtenübermittler mit Tychow und seinen Einwohnern.

Von diesen waren Einzelne recht krank. So war Pause als eine halbe Hungerleiche heimgekehrt. Bisher hatte ich nicht gewagt, ihn zu besuchen. Jetzt konnte es geschehen - trotz der Warnung; aber es war zu spät, er starb vorher, und wir konnten nur zu seiner Beerdigung gehen. Vor ihm war die Frau des Lehrers Witt an Angina gestorben. Den Major im Herrenhaus, ein Offizier der Truppe, ließ der Ruhm, daß der Major im Beamtenhaus, ein Offizier der Verwaltung, mich dagehabt hatte, nicht ruhen und eines Tages ließ er mich abholen; angeblich um ihm zu zeigen, wo im Haus ich Waffen versteckt hätte. Ich tat das denn auch, fand aber natürlich nichts mehr vor, zumal ich manche Verstecke nur erfunden hatte und die anderen mit Absicht ungeschickt angelegt worden waren. Zum ersten Mal wieder im Hause! Es sah nach meinen Begriffen schon recht leer aus, aber immerhin waren noch 1/3 bis 1/4 der Sachen da. Im runden Saale standen die beiden Nürnberger Schränke und darauf lagen wahrhaftig noch die beiden englischen Armleuchter. In der österreichischen Stube, die noch voll eingerichtet war, wohnte der Major, und da saßen wir und sprachen über alles mögliche. Nach einiger Zeit war ich dann entlassen und benutzte die Gelegenheit zu einem kurzen Gang in den Gemüsegarten zu Hischke, in die Stellmacherei zu Mikley, in die Schmiede zu Soike und in die Brennerei zu Bigesse. Alle die Braven weinten beim Wiedersehen. Ins Dorf aber traute ich mich noch nicht. Immerhin war die gröbste Eismasse gebrochen, und wir gelangten doch in einigen Verkehr mit den Dorfbewohnern. Besonders getrauten wir uns nun in den Abendstunden nach Grünhof und Aalkathen und erhielten auch ab und zu Besuch aus dem Dorf selbst.

Unser Leben ging sonst seinen ruhigen Gang bei guter Kost. Peinlich war freilich, daß die Pumpe endgültig entzwei ging, und wir das Wasser nun vom Grenzgraben herauftragen mußten, also ca. 300 m weit und bergauf. Sonst beschäftigte man sich landwirtschaftlich, im Gemüsegarten, mit Besorgen von Brennholz, Pilze suchen, und ich mit der Verbesserung des Grenzweges zum Ziegnitzer Weg hin. Dieses Stück nannte ich nunmehr den „Verbannungsweg". Die Nachricht von der Einstellung des Krieges hatte uns übrigens seiner Zeit sofort Paul Meyhak gebracht, wofür er von der Klemm'schen einen Kuß erhielt. Durch Frau Schönwald, die ich schon erwähnte, lernten wir Lasts in Planheide näher kennen und haben dort manchen schönen und kulinarisch genußreichen Sonntagnachmittag, gelegentlich mit Bonin's, sowie dem Bruder Last (Tischler in Schlawe) und anderen verlebt. Inzwischen verließ die russische Truppe Tychow, und der Major der Verwaltung zog mit den Seinen in das Schloß. Wir hatten ihm einige Wünsche vorzutragen wegen unserer Sachen, und so suchten wir ihn mehrfach auf, aber immer vergeblich, da er teils nicht da war, teils sich verleugnen ließ. Aber hierdurch kamen wir doch wenigstens in das Dorf und sahen unsere Leute, unsere „Bombenflüchtlinge" und vor allem unseren alten Runow wieder. Er hütete zusammen mit der Berlinerin Frau Münche die Kühe und sah blühend und gesund aus, war auch sehr vergnügt. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, daß ich ihn sah. Etwa einen Monat später hieß es, daß die Kühe auf der Diebssteig-Wiese getötet würden. Da wollte ich ihn aufsuchen. Unterwegs begegneten mir zwei Frauen, die in Ablösung mit ihm zu hüten hatten. Ich fragte sie nach ihm, da sagten sie mir, er wäre in der vergangenen Nacht von einem Russen umgebracht worden. In der Tat war ein betrunkener, fremder Russe auf der Suche nach einem Mädel bei ihm eingedrungen und hatte den sich ihm entgegenwerfenden Runow in verbissenem Ringkampf erwürgt. Seine Beerdigung wurde von wildem Sturm und Regenguß begleitet, so daß von meinen Worten kein Ton zu vernehmen gewesen ist und die meisten völlig durchweichten. Unser alter Runow hatte ein feierliches Begräbnis mit Trauerfeier in der Kirche durch Pastor Landig, unserem famosen „Flüchtlings-Pastor". Sehr angenehm für unsere Verpflegung war, daß Hischke Gärtner war und allabendlich so viel nach Hause bringen konnte, daß wir davon alle zwei bis drei Tage unseren Bedarf an Gemüse zu holen vermochten. Obst gab es freilich nicht, das aber lediglich aus dem Grunde, weil die Russen alles Obst lange vor der Reife aufaßen, selbst die grünen Erdbeeren. Das konnten sie aber nur, weil sie in dem reichlichen Schnaps aus der Brennerei ein entsprechendes Schutzmittel hatten, zumal bei den hohen Prozenten - ca. 97 % - des Spiritus. Sie pflegten ihn rein zu trinken und nur einen Schluck Wasser nachzukippen. Die deutsche Bevölkerung fing jetzt an, stark unter Seuchen zu leiden, hervorgerufen teils durch die Überbelegungen der Wohnungen - Tychow hatte dreimal soviel Einwohner als sonst -, teils durch mangelhafte Ernährung und teils durch Verseuchung der Brunnen. Die Russen hatten auf der Suche nach versteckten Sachen die meisten Brunnen abgedeckt. In einige von diesen nun offenen Brunnen war Vieh gefallen, dort ertrunken und nicht herausgeholt worden. So wurden nicht nur die Brunnen selbst, sondern auch noch die benachbarten verseucht, bis sich die Russen endlich, auf vieles Drängen, entschlossen, die Kadaver beseitigen zu lassen. Sehr bösartige Diphtherie und Angina griffen, besonders in Tychow, um sich. Die Schule wurde als Lazarett eingerichtet und durch einen deutschen Sanitäter und einen, besonders chirurgisch sehr tüchtigen, auch sonst sympathischen russischen Militärarzt ärztlich betreut. Auch zu uns nach dem Stüwehof kam die Seuche, Fräulein Else erkrankte an Typhus, wurde nach einiger Zeit von Tychow nach Schlawe geschafft und ist dort ihrem Leiden erlegen. Ihr sind noch viele Tychower und erst recht viele Schlawer gefolgt. Zu denen, die starben, gehören auch Anna Runow vom Krug und Helga Paul, die inzwischen wieder zur Mutter ins Dorf zurückgekehrt war. In der ersten Zeit wurden alle diese Beerdigungen durch einen ostpreußischen Laienprediger namens Spurgies vorgenommen. Er stammte aus dem Memelland, seine Tochter pflegte im Lazarett in der Schule, und er hielt auch späterhin Lese-Gottesdienste ab. Allmählich aber übernahm Pastor Landig wieder die regelmäßige Betreuung von Tychow und Umgebung. Er war in Januar im Treck von Ostpreußen gekommen und hatte schon damals für unseren eingezogenen Pastor Bendig dessen Amt übernommen. Er war dann ebenfalls nach Planheide geflüchtet, wurde von dort im Frühjahr 1945 nach Stolp verschleppt, aber bald wieder entlassen und wohnte weiter in Planheide. Im Frühjahr 1946 übersiedelte er nach Tychow und wohnte bei Frau Härtel. Tychow und Umgebung verdanken ihm sehr viel, denn was Gottesdienste und Seelsorge unter solchen Umständen, wie sie dort herrschten, bedeuten, das kann nur der ermessen, der die Verhältnisse erlebt hat. Dazu standen seine Gottesdienste auf einer ganz besonderen Höhe, und er war, ebenso wie seine Frau, sehr sympatisch. In unserer Gegend war das Leben unter den Russen leidlich ruhig und friedlich geworden. Die Verfolgungen der Frauen hatten aufgehört; leider waren viele von ihnen in engere Verhältnisse zu den Russen getreten und hatten sich dadurch kulinarische wie sonstige Vorteile erkauft. Völlig verrückt war die Arbeitszeit der Russen. Ihre Uhr ging der deutschen Normalzeit um zwei Stunden voraus und dazu hatten sie sechzehn Stunden Arbeitszeit im Sommer. Infolgedessen mußten die Pferde schon mitten in der Nacht wieder gefüttert werden, und die Kühe, die bei den Russen unbedingt dreimal zu melken waren, erhielten auch des nachts Futter. Die Russen glaubten dann weiterhin ihre höhere Kultur dadurch nachweisen zu müssen, daß sie die Kühe auf hohe Kurz-Stände stellten und sie alltäglich waschen ließen. Die Folge dieser Behandlungen waren schwere Erkältungen und Euter-Krankheiten. Ähnlich ging es mit den Schweinen. Der Abgang an Tieren war dann auch ungeheuer. Zu dem Reinlichkeitsfimmel gehörte es auch, daß das ganze Schloß einschließlich Parkett täglich naß aufgewischt werden mußte, der Hof und die Dorfstraße täglich zu fegen waren und - was nun mal wirklich gut war, zumal für die deutschen Kriegsgefangenen - der Hühnerstall in eine Sauna umgewandelt wurde. Alle Arbeiten gingen unter ungeheurer Verschwendung von Menschen vor sich. So waren zum Beispiel zeitweise im Gemüsegarten vierzig bis sechzig Frauen tätig, bzw. standen sich im Wege; da wo sonst höchstens hundert Menschen beschäftigt wurden, waren es jetzt drei- bis vierhundert. Entsprechend aber war die Entlohnung: ganz nach Gutdünken und Zufall Der eine bekam etwas, der andere noch weniger oder gar nichts. Hauptsache war, daß die Listen für die oberen Behörden stimmten, wie denn überhaupt die ganze Kolchosen-Wirtschaft nach dieser Richtung hin völlig auf Lug und Trug aufgebaut war. Bei jeder Meldung und Listenaufstellung wird darauf reichlichst Rücksicht genommen, daß genügend Überschuß unangemeldet bleibt, damit evtl. Fehlmenge ausgeglichen werden kann, und - vor allem aber alle Beteiligten auch noch besonders versorgt werden. Ebenso wird zum Beispiel beim Dreschen auf den Bauernhöfen offiziell damit gerechnet, daß die betreffenden Bauern und Drescher sich selbst reichlich versorgen. Wenn man trotz allem nicht dauernd das Gefühl gehabt hätte, auf einem Pulverfaß zu sitzen, so hätte man diesen Sommer hindurch unser Leben als durchaus idyllisch bezeichnen können. Leichte Arbeit, Spazierengehen, Pilze suchen bis hinten an den Kanal hin, Besuche von Bekannten, besonders von Bauern, und besucht werden, damit verging die Zeit. Unglaublich war die Menge und die Phantasie der Gerüchte, die von allen Seiten heranströmten, und die meistens auch geglaubt wurden, zumal, wenn sie gleichzeitig von verschiedenen Seiten als Radiomeldung mitgeteilt wurden. Es muß da einen Sender gegeben haben, der es sich zur Aufgabe machte unwahre Meldungen gerade über die besetzten Gebiete hinauszugeben und zu senden. Unsere tägliche Zeitung war Herr Pagenstecher, der uns zum Abendbrot alles vorsetzte, was er so täglich von Deutschen wie Russen gehört hatte, und der uns dabei auch immer das Mahl würzte mit allem was nun wieder zu Hause und Umgebung zerstört und vernichtet wurde; besonders wenn es Möbel und Kunstgegenstände betraf - es ging uns wie dem Hunde, dem der Schwanz stückweise abgeschnitten wurde. Ein ideales Hundeleben führte Bauz. Die nahebei gelegenen Schonungen durchstöberte er täglich, brachte dabei manchen Schwarzen, die mit der Zeit recht vertraut wurden, auf die Läufe, und hat uns im Spätsommer auch mal eine von den Russen lauflahm geschossene Ricke in die Küche geliefert. Schwarz- und Rotwild litten unter den Russen kaum, um so mehr das Rehwild und etwas auch die Hasen; doch diese mehr durch die deutsche Jugend, die mit Eisen und Kesseljagden, unterstützt durch die Hunde, regelrecht Treibjagden machten. Vor dem Walde hatte der Russe überhaupt Respekt und betrat ihn nur mit Vorsicht oder nachdem er mehrere Schüsse hinein abgegeben hatte. In Schlawe und in den reinen Bauerndörfern fing es mit der Zeit an, immer ungemütlicher und gefährlicher zu werden, je mehr Polen kamen und sich breit machten. Die ersten Massenausweisungen von Deutschen unter sehr rigorosen Formen begannen. Bauerndörfer, die von den Russen zu Gunsten der Polen geräumt wurden, wurden dies im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Dörfer wurden vorher so geleert, daß nicht ein Halm Heu oder Stroh darin zurückblieb. Bei uns auf dem Stüwehof machte sich erst im Oktober die Annäherung der Polen bemerkbar, durch gelegentliche Besuche von diesen, angeblich zur Besichtigung des Hofes. Vorher hatten sich schon überall auf den Ausbauten, in Planheide, Grünhof, Aalkathen und Poggenkathen die nächtlichen Überfälle und Plünderungen durch Polen vermehrt; manchmal auch durch fremde Russen. Besonders übel aber wurde das, als der Major in Tychow versetzt wurde, und ebenso der alte „Statschina". Nachfolger waren ein Oberleutnant, der ganz in der Hand seiner jüdischen Dolmetscherin war, und ein zwar leidlich deutschfreundlicher Statschina, der aber mit den Polen Schiebergeschäfte machte. Übel war auch die russische Besatzung in Egsow, wo ein großes Pferdelazarett eingerichtet war. Der neue Statschina erschien im Oktober mal auf dem Stüwehof, holte uns etliches vom Viehbestand fort und verlangte, daß Minna Stüwe, Fräulein Klemme und ich zur Arbeit auf das Gut gingen. Na, das haben wir dann auch drei Tage lang getan und dann wurde es vergessen. Herr Pagenstecher verließ uns jetzt und fuhr ab nach Düsseldorf, und das war gut; denn bald darauf wurden auch wir nachts überfallen. Einmal nur etwas Vieh genommen, und einmal drangen die Kerle ins Haus und plünderten dort auf der Stüwe'schen Seite, ohne zu uns hinein zu kommen. Das aber war sowohl für Stüwes das Signal den Hof zu verlassen und wieder nach Planheide zu ziehen, wie auch für uns, ins Dorf zu ziehen, wo wir Ende Oktober zusammen mit Cousine Alice und Fräulein Klemme Unterkunft auf dem Panzer'schen Hof fanden. Auf dem Stüwehof blieben nur Minna Stüwe und Bauz zurück; letzterer, weil er auf dem Panzer'schen Hof einen Todfeind in Gestalt des dortigen Nero hatte. Zwei Tage ging nun alles ganz gut; Minna Stüwe war freilich in der zweiten Nacht auch getürmt. Dann aber kam sie am Nachmittag des dritten Tages wieder, begleitet von ihrem Hunde und von Bauz. Dabei ist sie dann überfallen worden. Ich selbst ging am gleichen Tage nach dem Stüwehof, um mal nachzuschauen, und zwar den Bauernweg entlang, weil man von da aus gedeckt an den Hof herankommt. Schon von weitem hörte ich Schüsse und sah einige Gestalten in der Nähe des Stüwehofes. Das veranlaßte mich noch zu größerer Vorsicht und Umweg. Im Hof sah ich einige Wagen, und hörte Stimmen von Jungen und Männern, die Heu aufluden. Dann fuhren die Wagen fort; vier machten an der Ecke der Schonung nochmals Halt und entfernten sich dann schleunigst. Jetzt ging ich auf den Hof und fand alles ausgeräubert und verwüstet. Vorsichtig pirschte ich nach dem Silberbergweg. Schon von weitem sah ich an seinem Anfang einen Menschen liegen, es war Minna Stüwe, und bei ihr lag Bauz. Minna mit schwachen Lebenszeichen und anscheinend gelähmt, Bauz tot - erschossen. Da ich so nicht helfen konnte, eilte ich zum Oberleutnant, wo ich Minna's Schwägerin vorfand. Es wurde das Überfall-Kommando alarmiert, dem ich mich anschließen mußte. Die Fahrt ging nach Egsow, wo wir das Heu vorfanden und anscheinend ist dort auch der Attentäter festgestellt worden. Er soll später bestraft worden sein. Auf dem Rückwege ging es zur Stelle des Überfalls und wir fanden Mina Stüwe immer noch dort liegend vor. Ich holte nun schleunigst Pferd und Wagen von Panzer's, brachte dann Minna zu den Russen, die sie ins Krankenhaus bringen ließen. Dort stellte man eine Splitterung der Wirbelsäule fest, hervorgerufen durch Tritte und Kolbenstöße. Minna erholte sich allmählich wieder. Bauz begruben wir am nächsten Tag im Silberberg. Unter den obwaltenden Umständen war also der Umzug unumgänglich gewesen und wir waren auf dem Panzer'schen Hof auch gut untergebracht, in einigem vielleicht sogar komfortabler als auf dem Stüwehof. Ganz ohne Zweifel war es aber gut gewesen, daß wir die erste Zeit bei Stüwe's sein durften. Mit der idyllischen Lage des Stüwehofes war es nun aber vorbei, wir wurden mitten in das Leben eines Russen-Dorfes gestellt, was uns schließlich gefährlich werden mußte und auch wurde; denn den Russen wurde nun unser Anhang in der deutschen Bevölkerung deutlich. Noch aber geschah nichts, wir verkehrten ruhig im Dorfe und auch auf dem Gut bei Bigesse's. Frau Bigesse war inzwischen, ebenso wie Hilde Zander und Frau Klatt, aus der Verschleppung heimgekehrt. Von allen Seiten erhielten wir einiges Eßgeschirr und Silber zurück; teils Wolle, ja Stoffe geschenkt, so daß sich unsere Bekleidung erheblich verbesserte. Ein Schuster aus Schlawe, Duske, sorgte für unser Schuhwerk, womit wir am schlechtesten versorgt waren, die Tochter Mickley sorgte für die Ausbesserung der Wäsche, desgleichen Frau Hermann, die bei Unnasch's in Grünhof wohnte. Immer mehr Flüchtlinge verließen Tychow, um „freiwillig" über die Oder zu fahren, wie die diesbezügliche Lesart lautete. Meist wurden sie, wenn nicht schon vorher, in Scheune bei Stettin gründlichst ausgeplündert. Zu den Abfahrenden gehörten bald auch Frau Wiggert aus Schlawe und Puttkammers aus Franzen. Erst späterhin, Ende Januar, kurz vor Toresschluß der „freiwilligen" Abfahrten, fuhr auch die Familie Kreienbrink. Er war verschleppt; und so bestand die Familie aus Frau K., die am 2. September noch einen Sohn bekommen hatte, Kindern, Mutter, Schwester und deren Kinder. Im November etwa hatten wir Besuch von einer polnischen Dame, die mit einer Empfehlung von Herrn Rosenow- Rügenwalde versehen, beauftragt war, sich nach den Rügenwalder kirchlichen Kunstschätzen umzusehen, und desgleichen nach den Akten der preußischen Staatsarchivs zu forschen. Was von den Akten noch im Schloß war, ließ sie abholen. Die Kirchenschätze blieben in der Patronatsloge der Tychower Kirche. Auch auf dem Panzer'schen Hof versuchte ich, mich nützlich zu machen. Besonders half ich beim Heranschaffen des Holzes und beim Zerkleinern. So kam ich auch noch einige Male in den Wald. Das letzte Mal beim Holen der Weihnachtsbäume. Ich habe damals auch für einen Schlawer, für Pause und für den alten Maurer Witt Grabkreuze geschnitzt. Da die Russen immer mehr von unseren Möbeln entfernten, zumeist sie einfach hinaus in den Park warfen oder auf den Hof, von wo sie dann verheizt wurden, wie zum Beispiel die großen Eßzimmerschränke und die Möbel aus dem holländischen Zimmer, Teile der Bibliothek fand man in den Entenhäusern, so holte ich mir soviel wie möglich davon, und mit Hilfe von Kindern auch von den Büchern. Drei Büchergestelle, die Anrichte und der gotische bunte Schrank der Bibliothek fanden so ihren Weg zum Panzer'schen Hofe. Nun hatte man wenigstens genügend Lesestoff für den Winter. Zunächst war es freilich mit dem Licht recht übel bestellt, und wir waren auf Petroleum-Lämpchen angewiesen; nachher kam wenigstens zeitweise Licht, bis zehn Uhr Russenzeit. Meine Frau bekam leider im November eine Nierenbeckenentzündung; gleichzeitig lag Cousine Alice mit einem schweren Furunkel an der rechten Rippengegend, und ich holte mir fast gleichzeitig einen schweren Furunkel auf dem Kopf, was mir die Russen aufschnitten und gut behandelten. Die Fernbehandlung meiner Frau war die letzte Tat unseres prachtvollen Dr. Röhrich in Schlawe für uns; er ist dann bald - gut für ihn - einer Erkältung erlegen. Mit unserer Tochter Sigrun in Selesen hatte wir eine tröstliche briefliche Verbindung. Auch sie war mit ihren Schwiegereltern verblieben und ihr Schwiegervater dann am 19. September gestorben. Am tiefsten waren wir natürlich getroffen, als ein Brief von Sigrun uns meldete, daß Anfang März unser Sohn Volker in Ungarn gefallen sein sollte. Da diese Nachricht auf verschiedenen Umwegen gekommen war, glaubten wir sie noch nicht; auch noch nicht, als sie von anderer Seite kam. Andere spätere Nachrichten bestätigten jedoch die erste Nachricht. Mit diesen anderen Nachrichten erfuhren wir zum ersten Male, daß unsere Tochter Dietlind lebt; ein Schlawer sandte uns im November 1945 die Adresse von Tochter Ortrun, die bei Verwandten in Schleswig-Holstein untergekommen war. Am 16. Januar 1946 konnten wir die goldene Hochzeit der alten Stüwe's in Planheide mitfeiern, mit Gottesdienst durch Pastor Landig und Ansprache durch mich; sowie mit viel Kaffee, Kuchen und Hammelfleisch. Im Februar geschah dann eine recht üble Sache, der Anfang vieler Unerfreulichkeiten. Trotz Warnungen und Verbote ließen viele Halbwüchsige im Dorf nicht vom Wildern, auch mit der Waffe. Eines Tages war so der älteste Sohn von Panzer's, Werner und der Sohn von Frau Buchert wieder im Walde gewesen und dabei den Polen in die Hände gefallen. Der Wald stand nämlich unter polnischen, übrigens sehr ordentlichen, Förstern. Die Jungen sind nach Stolp zur polnischen Miliz gebracht worden. Wir konnten nicht feststellen, was weiter mit ihnen geschah, es hieß nur, sie wären der Jugendgerichtsbarkeit überstellt worden. Dieser Fall sollte bald noch weitere Kreise ziehen, denn eines Tages erschienen Angehörige der Miliz bei anderen Jungen, die der Mittäterschaft bezichtigt worden waren, und dann wurde ganz plötzlich auch ich von Russen und Polen gleichzeitig verhaftet. Ich kam zusammen mit Karl Klatt und dem Sohn vom Bauern Nemitz, die unter der gleichen Anklage standen, in den Keller des Beamtenhauses, Meine Situation konnte dadurch gefährlich werden, daß der Junge von ihm selbst vergrabene Waffen als meine ausgeben konnte. Nach etwa drei Stunden kam ich zum Verhör in unser großes Eßzimmer; ziemlich die ganze Russenbesatzung war da versammelt und jeder glaubte, etwas aus mir herausquetschen zu können. Ich machte ihnen klar, daß ich alle mir bekannten Waffen seinerzeit angegeben hätte, und da sie das wußten, gaben sie sich schließlich damit zufrieden, und ich kam frei. Ebenso Nemitz, während Klatt erst am nächsten Morgen herauskam. Dieses nicht ungefährliche Ereignis hatte insofern ein spaßiges Nachspiel, als eine Weile nach mir die beiden ziemlich unter Alkohol gesetzten Milizleute auf den Panzer'schen Hof kamen, um sich bei mir in aller Form zu entschuldigen und mich dabei baten, mir ihre Gesichter für eventuelle Möglichkeiten fest einzuprägen. Übrigens schon mehrere Wochen vorher war abends, wir lagen schon in den Betten, ein Russe schwer bewaffnet bei uns erschienen und hatte verlangt, ich sollte ihm versteckte Waffen und Munition ausliefern. Er schien das aber mehr ein Versuch zu sein, dahinter zu kommen, was wir wohl überhaupt noch an Sachen hätten. Denn, nachdem ich ihm gesagt hatte, ich wollte sofort mit ihm zum Oberleutnant gehen, zuppte er zurück und begnügte sich mit einer natürlich vergeblichen Durchsuchung unseres Schlafzimmers, wozu er sich Herrn Panzer hinzuzog, als Zeugen, daß er nicht „zapperapp" mache, also plündere. Eine Stange noch guter Rasierseife von unserem Sohn Volker hatte es ihm wegen ihres Wohlgeruchs angetan. Wir wollten sie ihm schenken, und er kämpfte sichtlich mit sich, blieb aber fest und sagte, er käme wieder, um die gute Seife gegen einfache Einheitsseife einzutauschen. Er ist dann aber nicht wiedergekommen, sondern bald versetzt worden, in dieser Beziehung herrschte bei den Russen ein dauerndes Kommen und Gehen. Weihnachten hatten wir still und friedlich verlebt, mit Christmette und schönem Gotttesdienst durch Pastor Landig, und umgeben von rührendster Liebe und Fürsorge unserer Bauern, wie überhaupt auch die ganze Zeit von Seiten unserer Leute. Schon im Spätherbst hatten die Russen ihren Agronom eingesperrt, weil die angeblichen Viehbestände und Erntemengen nicht gestimmt haben. Der Mann war zudem ein ganz anderes Klima und erheblich größere Fruchtbarkeit gewohnt und der deshalb hier nicht zu wirtschaften verstand. An seine Stelle wurde nun Anfang Januar Herr v. Bonin-Ziegnitz gesetzt, der hierzu nach Tychow übersiedeln mußte, und zwar in die Kreienbrink'schen Schlafzimmer. Als zuständig wurde er eingesetzt für Tychow, Besow, Egsow, Franzen und Ziegnitz, seine Aufgabe war nicht leicht, denn es galt die ersten Unmöglichkeiten und Verrücktheiten zu beseitigen. Zudem hatte er in Tychow mit dem Kolchosen-Befehlshaber, einem Oberleutnant zu kämpfen, die heftigsten Kämpfe jedoch mit den einzelnen Orts-Kommandanten auszustehen. Seine sprachkundige Frau (tschechisch) und seine große, ausgleichende Ruhe halfen jedoch, seine Ansichten durchzusetzen. Seine Frau wurde bald sehr ausgenutzt, um alle möglichen Listen auszustellen und zu übertragen, was sich bei den Russen immer in den Nachtstunden abspielte. Später bekam sie auch noch die Geflügelzucht in die Hand; für die Aufzucht von ca. 1.000 Küken mußten die Kreienbrink'schen Eß-und Wohnzimmer dienen. Als Gehilfin wurde ihr Luise Paul, geb. Hase zugeteilt. Mit dem Winter haben wir Glück gehabt. Wirklich kalt war es eigentlich nur vor und um Weihnachten. Da freilich war es in unseren Mansarden recht unerfreulich, und wir waren froh, als diese Periode vorüber war. So vergingen die Monate leidlich friedlich und erträglich, Man muß sich aber unter friedlich nicht einen normalen Frieden vorstellen, denn eigentlich war das Leben ein andauerndes Beunruhigt- bzw. Auf-der-Wacht-sein. Wenn mehrere Russen zusammen die Dorfstraße hinabkamen, war man schon immer auf dem Posten, besonders wenn dabei ein Kommandant oder ähnliches war. Entweder kamen sie, um Vieh zu holen, oder Geräte, oder Bilderrahmen oder Bilder selber usw. Das war denn ja noch immer verhältnismäßig harmlos, schlimmer wurde es, wenn es sich um irgendwelche Menschen handelte; entweder auf Anzeige von dieser oder jener Seite, oder aus eigener, russischer Initiative. Das harmloseste war dann, ein paar Stunden im Keller des Beamtenhauses zu sitzen; das schlimmste aber war die Übergabe an die Polen, wobei das verbliebene Eigentum restlos geplündert wurde. In dieser Zeit bewahrheitete sich das Wort, daß niemand in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Die bösen Nachbarn waren fast durchweg die deutschen Flüchtlinge, und zwar die ost- und westpreußischen, nicht die aus Schlawe; außerdem sogenannte Volksdeutsche, die bei uns gearbeitet hatten. Zugegeben ist, daß die Lage der Flüchtlinge noch erheblich schlechter war, als die der Einheimischen, weil sie so gut wie gar keine Naturalien und kein Vieh hatten; und nicht alle Quartiergeber verhielten sich gegenüber den Einquartierten mitteilsam. Aber es schied sich die Spreu vom Weizen. Als fast durchweg übel erwiesen sich alle Zweisprachigen, sie trugen den Mantel auf beiden Schultern, gleichgültig, ob die zweite Seite polnisch, russisch, lettisch oder litauisch war. Sehr übel war auch, daß die Jugend dieser Flüchtlingsfamilien auf unsere einheimische, sowieso schon völlig verbummelte und verrüpelte Jugend alle ihre östlichen Untugenden übertrug, wie besonders das Wildern mit Hunden und das Schlingen- und Eisenlegen. Es kam soweit, daß an einzelnen Sonntagen die Bengels im Verein mit Hunden Kesseljagden veranstalteten und dabei tatsächlich eine ganze Anzahl Hasen zur Strecke brachten. Auch die Russen waren für die Jugend ein Verderb, besonders für die männliche. Sie hatten ihre Freude daran, je wilder die Bengels mit den Pferden umgingen, auf ihnen ritten, mit ihnen fuhren, und kein erwachsener Deutscher durfte etwas dagegen sagen. An Feiertagen setzten sie sie dann noch gründlich unter Alkohol. Für eine hoffentlich wieder deutsche Zukunft dieser Gebiete wird diese Jugend eine Frage für sich sein. Es muß aber auch anerkannt werden, daß es trotz allem eine ganze Anzahl Jungen gab, die nicht mitmachten, sondern sich ordentlich hielten. So verging der Winter und das Frühjahr nahte. Endlich ging man an das Pflügen all' der liegengebliebenen Stoppel- und sonstigen Felder. Eine einschneidende Neuerung war das Umpflügen der bäuerlichen Grenzen, nur die Hauptwege blieben bestehen. Damit entfiel für die bäuerliche Bevölkerung jede Selbstversorgung. Es wurde nur jeder Familie -ebenso wie sonst jeder im Dorfe - ein etwa morgengroßes Stück Land für Kartoffel- Anbau übergeben. Diese Landstücke wurden aber nicht mit Pferden bestellt, sondern mußten mit dem Spaten bearbeitet werden. Die Versorgungsaussichten für den kommenden Winter sind demnach keine rosigen. Merkwürdig waren weiterhin die sich oft widersprechenden Nachrichten, die man aus den wenigen noch vorhandenen Radios empfing. Immer wieder kamen Nachrichten, die ganz was anderes brachten, als die englischen und die amerikanischen. Die, die über die russische Nachrichtenagentur kamen, brachten alles noch in einem anderen Lichte. Man zog sich aus alledem heraus, was man nach eigener Veranlagung gerne hören wollte, und was einen entweder noch melancholischer machte, oder wieder Auftrieb gab. Um auch meinen Tatendrang zu beweisen, ging ich mit vorrückendem Frühjahr zu Hischke in den Gemüsegarten und freute mich immer wieder über den sauberen und ordentlichen Zustand des Gartens und über das Gedeihen der jungen Obstbäume. Wie sich später zeigen sollte, nutzte mir diese Arbeit aber nichts, unser Schicksal war wohl schon entschieden. Zuerst wurde erst einmal die Bevölkerung wild gemacht durch Gerüchte über Listen, die aufgestellt wurden und in die angeblich nur die aufgenommen wurden, die dableiben sollten. Nichtaufgenommene sollten eines schönen Tages ausgewiesen werden. Nun, noch war es nicht soweit. Unsere tägliche Nachrichtenquelle war Frau v. Bonin, die allmorgendlich kam, um ihre auf dem Panzer'schen Hofe befindlichen Hühner zu versorgen und die Eier abzuholen. Gegen Typhus wurden wir auch wieder mal geimpft; am besten gab die Spritzen Frau Vera, die Strohwitwe des eingesperrten Agronomen. So kam allmählich der Mai heran. Am l. war ein großes Russenfest, aber auch die andere Bevölkerung brauchte nicht zu arbeiten, und die Pferdejungen wurden gründlich unter Alkohol gesetzt. Am 4. hatte ich gerade, wie allmorgendlich, das nötige Holz gesägt und zerhackt und mich dabei schon über einen auf der Dorfstraße haltenden Wagen gewundert, als plötzlich der Kommandant mit noch zwei Bewaffneten kam und mir sagte: „Packen, soviel wie tragen, in halbe Stunde fort Schlawe, über Oder". Es galt, nun erstmal meine Frau entsprechend zu verständigen und Fräulein Klemme. Während des Packens stand der Kommandant und ein Bewaffneter unausgesetzt dabei, riß, nachdem wir glaubten fertig zu sein, alles nochmal heraus und nahm alles, was nach Dokumenten aussah, weg. Ich merkte dann, daß Cousine Alice noch fehlte. Also hin zu der, und nun dasselbe noch einmal. Glücklicherweise nahm ich trotz ziemlicher Wärme den dicken Wintermantel mit und ebenso meine Frau ihre dicke Jacke, und dann schleppten wir schweißtriefend die Koffer über die Straße bis gegenüber dem Kruge. Wir hätten sie ebensogut dalassen können, wie sich später zeigte. Von Tychow fuhren wir dann ab, begleitet vom Nachsehen und heimlichen Winken der verängstigten Bevölkerung. Dabei mußten wir fortwährend damit kämpfen, keine Gepäckstücke zu verlieren oder selbst vom Leiterwagen herabzurutschen. Der Kommandant mit seinen Kerls fuhr vor uns her. Am Parkende begegnete uns noch Bonin, tief entsetzt; in kürzester Frist konnten wir uns verabschieden. Auch in Alt-Warschow sah uns die Bevölkerung, soweit sie noch da war, kopfschüttelnd und verzweifelt nach. In Schlawe hielten wir vor dem Kreishaus; ich mußte mit hinein und verstand so etwas wie, wir hätten die Bevölkerung aufgewiegelt, besonders meine Frau. Na, uns ahnte sowieso nichts Gutes, und richtig, wir hielten dann auch vor der Kreissparkasse, dem Quartier mit dem Verließ der polnischen geheimen Staatspolizei. Hier wurden wir abgeliefert und kamen zunächst in den großen allgemeinen Verkehrsraum. Nach Stunden kam eine ganze Horde widerlich aussehender junger Kerle, die, wie wir später hörten, vorher z.T. Knechte bei Bauern in der Umgebung gewesen waren, sich jetzt aber Leutnant nannten, und fragten mich:" Welche Partei?". Ich erwiderte:"Deutschnational", und hatte schon ein paar Ohrfeigen sitzen, und so ging es weiter, obgleich ich versuchte, ihnen klar zu machen, daß deutschnational und nationalsozialistisch Gegensätze seien. Dann wurden wir einzeln im Last'schen Schreibzimmer untersucht und vernommen, wobei ich wieder mit Faust und Gummiknüppel bearbeitet wurde; die Frauen glücklicherweise nicht Dann saßen wir stundenlang allein; wieder kamen einige Kerle, die mich fragten: „Du sein Major?", meine Antwort: „Nein, Rittmeister." „Was das sein?, Kapitän bei der Kavallerie. Bei Hitler?" „Nein, bei Kaiser." „Gut." Seitdem wurden Ton und Behandlung zunächst erheblich besser. Nach einer Weile wurde uns, die wir inzwischen erheblich Hunger verspürten, denn es war wohl ca. acht Uhr abends, unsere Tasche mit mitgebrachten Broten und Speck gegeben, so daß wir wenigstens essen konnten. Sämtliches übrige Gepäck war uns von den Polen sofort weggenommen worden, und wir sahen auch nichts davon wieder, auch nicht unser Geld. Dann blieben wir den Rest der Nacht auf der Bank sitzen und konnten dann am Morgen durch die reinmachenden deutschen Frauen - auch Gefangene - etwas Kaffee und Brot erhalten. Während der Gefangenschaft durch die Polen haben insbesondere die Männer eine widerliche Behandlung erleiden müssen, aber auch diese Zeit möchten wir ebenso wenig missen, wie die Zeit davor, denn wir haben viel Menschlichkeit und Kameradschaft anderen und uns gegenüber erlebt. Nach Himmelfahrt wurden wir mit Cousine Alice und Fräulein Klemme sowie zehn weiteren Inhaftierten gen Westen abgeschoben. Wir reisten in einem Wagen der früheren vierten Klasse, doch die Freude über die Freiheit wandelte den Wagen in einen der ersten Klasse. Wegen der Pfingstfeiertage gab es in Stettin keine Anschluß-Transporte gen Westen. Dieser Zwangsaufenthalt wurde noch einmal sehr unerfreulich, denn ich wurde angezeigt, der SS angehört zu haben. Die Folge waren wieder Verhöre und Mißhandlungen, bis geklärt war, daß die Anzeige nicht stimmte. In diesen Tagen mußten wir sehr hungern, denn die Polen hatten uns unser letztes Geld genommen. Schließlich glückte es, mit einem Transport mitzukommen, und die Fahrt endete, nach erster Betreuung in Bad Segeberg, im Lager Hohn bei Rendsburg. Am 26. Juni 1946 holten uns Tochter Ortrun und Schwiegersohn Hans Radloff in Hohn ab und brachten uns zu Verwandten in Priesholz bei Kappeln, wo sie selbst einige Wochen als Flüchtlinge unterkommen durften, und nun wurde für uns Priesholz das reine Schlaraffenland! Wir sind häufig gefragt worden, warum wir den Russen nicht rechtzeitig ausgewichen sind.

Wir können beide nur antworten, daß wir, heute vor die gleiche Lage gestellt, mit unwesentlichen Abweichungen genau ebenso handeln würden wie im März 1945, wo uns beide der Gedanke des Imstichlassens von Tychow auch nicht eine Sekunde lang gekommen ist. Beide möchten wir die Zeit in unserem Leben nicht missen; das Bewußtsein, den uns anvertrauten Posten wenigstens moralisch bis zur letzten Möglichkeit verteidigt zu haben, mit unseren Leuten alles geteilt zu haben, desgleichen mit den Bauern; und der gesamten Umgebung ein erheblicher Halt gewesen zu sein, wie uns das immer wieder versichert worden ist, bestärkt uns in dem Glauben, richtig gehandelt zu haben. Darüber hinaus war es schön, so tiefe Einblicke in die Menschen unserer Umgebung tun zu dürfen und dabei überwiegend Erfreuliches feststellen zu können, oft dort, wo wir es am wenigsten vermutet haben und hatten. Das allerschönste und tiefst beglückende aber war, so überaus deutlich zu erleben, in welcher Weise man von Gott geführt, gelenkt und geschützt wird, und wie sehr in solchen Zeiten die Worte Christi in Math. 6,25 ff und Luc. 12,12 ff zutreffen. Von hier aus kommt uns eine unbedingte Sicherheit für die Zukunft.

Trotz allem, was uns widerfahren und besonders trotz der Bestätigung des Todes unseres geliebten Jungen, dürfen wir mit tiefem Dank gegen Gott feststellen, daß wir ungebrochen und voller Zuversicht für die weitere Entwicklung der eigenen Lage, wie der Heimat, der Zukunft entgegen sehen und nur auf den Augenblick warten, an dem wir zurückkehren und an den Wiederaufbau gehen können. Daß dieser ein anderes Bild schaffen wird, ist uns klar, auch wenn wir heute noch nicht wissen, wie es aussehen wird. Möge Gott uns bald dazu verhelfen; und möge er besonders alle die Deutschen schützen und vor Unbill bewahren, die unter diesen harten und rauhen Verhältnissen noch in der Heimat verblieben sind, beziehungsweise als Arbeiter haben verbleiben müssen!



Ewald Graf v. Kleist